Hunderte Grautöne liegen auf der Erde. Die zusammen geteerten Flicken glänzen außen, wie hartes Narbengewebe. Auf dem Gehweg, große Vierecke umrahmt von Moos, was aus den Fugen quillt. Sprünge im Stein, welche die meisten Stücke aufbrechen lassen. Vor dem Neuen Rathaus werden die Platten rot, wie lange getrocknetes Blut und Risse, wie Schluchten, tun sich auf. Oktogone, aufgetürmt, pyramidenartig, ragen aus der Ebene. Aus ihnen sprießen meterhohe Pfähle, wie Blumen, ohne Knospe, ohne Sinn. Gegenüber, die vernarbte Haut zu Füßen, thronen zwei graue Löwen mit schäumender Mähne. Sie pressen getötete Reptilien mit ihren Klauen an die Brust, als würden sie post-mortem noch Vergeltung üben, ihre Leichen schänden. Aus der Löwen versteinerten Lefzen scheint immer noch das Blut zu triefen, aus ihren Mündern die Fäulnis des Todes zu dampfen. Majestätisch, mit erhobenem Haupt, sehen sie sich an. Zufriedenheit liegt in den starren Blicken. Der Erfolg glänzt aus ihren Steinaugen. Ihr ewiger Standort, die Sockel, sind verziert mit nackten Kindern, die buschige Blumenkränze in ihren Händchen halten und um die Knabenschultern gelegt tragen, lachen, während ihnen das Blut auf die zerklüfteten Wangen tropft, von dort über das ganze Gesicht perlt und es verschmiert.
Zwischen den Löwen betrachtet ein Mann mit weißem Haarkranz eine gusseiserne Tafel. Er wirkt lächerlich mit seiner gelben Hose, dem blauen Hemd und der rosa Strickjacke, den Mantel über dem Arm. Sein Senioren-Klub zählt gerade noch mal durch. Ich atme den süßlichen Duft ein, den sie verstrahlen. Bei meiner eigenen Großmama fällt mir das nie auf. Es riecht immer nach Blumen dort oder nach Essen. Ich sehe die Bilder vor meinen Augen, wie sie hier entlang laufend, fast ein Jahrhundert zuvor, die Löwen betrachtete. Sie erzählt mir immer von ihrem Leben, nachdem sie mir das Essen zittrig und hektisch auf den viel zu kleinen Teller schaufelt.
Ich stelle mir vor. In einem winzigen Hinterhaus in der Auenstraße in Leipzig C1, wo sie geboren wurde, zu Zeiten der Inflation, als das Ich weniger zählte, als das Wir, sitzt die Familie beisammen. Petroleumlampe und Kerzen spenden warmes Licht. Der Vater schmiegt sich in einen abgerissenen Ohrensessel, trägt seine grobmaschige Strickjacke und raucht die einzige Zigarre, die er sich pro Woche erlauben kann. Genügsamkeit quillt aus seinen Mundwinkeln mit qualmendem Rauch, legt sich auf alles, die Kleider, die Köpfe, und zieht ein. Auf dem Fußboden im Schneidersitz stopft die Mutter Socken. Meine Großmama und ihre Schwester sehen dabei zu.
Ein paar Jahre später ziehen sie in eine Neubauwohnung in der Siemensstraße. Sie ist ganz verzaubert, als sie den Knipser an der Wand drückt, den Raum mit Licht durchflutet; an der Schnur zieht auf Toilette, wie ein Lokführer, und das Wasser plätschert.
Im gleichen Jahr kommt ihr Bruder zur Welt. Sie sieht die Freude in den Augen ihrer Eltern, endlich einen Stammhalter geschenkt bekommen zu haben, später die Trauer, als er an Hirnhautentzündung erkrankt und deportiert wird. In den nächsten sieben Jahren wird er immer wieder verlegt bis nach Hartheim in die Nähe von Linz. Besuche werden unmöglich. Die Mutter leidet an Depressionen, weint, schläft nicht mehr, hat Herzanfälle. Im Spätsommer dann die Nachricht aus Hartheim.
Ihr Sohn ist unerwartet in einem epileptischen Anfall gestorben. Alle unsere ärztlichen Bemühungen blieben leider ohne Erfolg. Heil Hitler!
Anbei die Todesurkunde und ein Angebot auf kostenlose Zusendung der eingeäscherten Überreste. Der Vater ruht weiter im Sessel und raucht jeden Samstag seine Zigarre, Tränen in den Augen, vom Rauch.
Weiter den Martin-Luther-Ring entlang, um die Ecke des neuen Rathauses, tut sich ein Loch auf, ein Glockenschacht im Erdboden, an den ich herantrete. Der Wind weht scharf und eiskalt. Ich ziehe den Schal hoch, kneife die Augen zusammen und blicke hinein, erwarte Tiefe. Auf einem Rost liegen ein Dutzend Rosen, die ich nicht riechen kann, langstielig und weiß, viel tiefer als ich erwartete. Ich merke erst jetzt, dass ich auf einer Tafel stehe, die Carl Friedrich Goerdeler gewidmet ist. Bisher kannte ich nur den Goerdelerring, die Straße, die Haltestelle und die Bandansage in der Bahn, die mir auf Französisch immer wieder ein Lächeln abgewinnt – prochain arrêt Goerdelerring. Zitate von ihm, unterschrieben mit Jahreszahlen sind chronologisch angeordnet, beschreiben seinen Weg, seinen Kampf, gegen das Regime. Ich stehe in dem Loch und mit jeder Tafel, mit jedem Brief aus der Vergangenheit, fühle ich mich mehr befangen, gefangen im Glockenschacht, die stille Glocke unter mir. Der ehemalige Oberbürgermeister war ein Widerstandskämpfer. Er legte seinen Posten nieder um gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen. Ich nehme eine der Rosen und rieche daran, lege sie zurück und steige die Treppe aus dem Schacht. Er wurde für die Mitwirkung bei der Operation Walküre, dem Attentat auf Hitler, beschuldigt. Ich blicke mich noch einmal um, gehe an den Fahrradständern vorbei, an denen Schlösser einsam hängen und sich deformierte Fahrräder, ohne Sattel oder Reifen, nur verbogene Rahmen, um eiskaltes Metall schlingen. Kurz vor Ende des Dritten Reiches wurde er hingerichtet.
Wenn ich bei meiner Großmama die gefüllten Paprikaschoten zerschneide und die Kartoffeln in der Bratensoße zerdrücke, reibt sie sich die müden Augen, die unentwegt zu tränen scheinen und erzählt weiter.
Ich stelle mir vor. Ihre Schwester an der Hand, läuft sie stolz mit ihrem Rindslederranzen, in dem die Schiefertafel steckt, über die Straße, ohne Acht zu geben, denn mehr als eine Pferdekutsche ist nicht zu befürchten. Schwamm und Baumwolllappen baumeln aus dem Ranzen, während ihnen vom Schulhof Kinderlachen entgegenfliegt. Im Klassenzimmer unter der Schulbank liegt der Ranzen, die Brottasche hängt über der Lehne. Der Lehrer tritt ein und alle stehen auf, grüßen, setzen sich wieder und falten ihre Hände auf den Holztischen. Jahre später steht sie auf, den Körper gespannt, wie ein Bogen, mit ernster Miene und Nachdruck in der Stimme, den Arm gestreckt, zum Abschuss bereit. Heil Hitler schallt es im Chor durch den Raum. Darauf quietschen die Stühle auf dem Linoleumboden und alle setzen sich, als wäre nichts gewesen.
In den Sommerferien in Nebra, auf dem Land, spielen die Geschwister auf Feldern und im Garten, Grasflecken auf den Hosen, Erde unter den Fingernägeln. Ihre Großmutter ruft durch die Sommerluft nach ihnen, während sie durchs hohe Gras Schmetterlingen nachjagen, betrunken von Freiheit und Weite. Mittags bringen sie dem Großvater den Eintopf, tragen ihn gemeinsam an einem Henkel. Mit der Fähre setzen sie über die Unstrut zur Zuckerfabrik, während er drüben winkt und lacht. Zusammen mit ihrer Schwester auf dem Kirschberg, die Sonne im Nacken, haben sie das Leben noch vor sich.
Mit Sechzehn, am Ende ihrer Schulzeit, bekommt sie eine Anstellung im Kaufhaus Knoop am Brühl, der späteren Blechbüchse. Damals stellte sie, das größte Kaufhaus des Ostens, mit ihren vielen geschwungenen Giebeln und kleinen Fenstern, eingelassen zwischen den Dachziegeln, den Balkonen rundherum, ein Leipziger Wahrzeichen dar.
Im Atelier fühlt sie den Hutfilz zwischen ihren noch so zarten Fingern, bringt Schleifen an und Federn, verändert Größen, atmet den Duft des Hutfilzes ein, während sie den Dampf durch ihn nieseln sieht. Im zweiten Jahr darf sie verkaufen, steht im zweiten Stock, mit den Händen in den Hüften und beobachtet, wie Kunden die Rolltreppe rauf und wieder runterfahren, weil das ganz neu ist. Ihre schwarzen Pumps mit Blockabsatz klacken adrett über den Fußboden, wenn sie die Verkaufszettelchen zur Kasse bringt, während ihr dunkelblaues Kleid mit den kurzen Ärmeln sich eng um ihre Knie schmiegt.
Rechts ziehen die Altbaufassaden vorbei, Links die laute Ringstraße, die das Stadtzentrum umgibt. Makellose Engelsgesichter strecken ihre Köpfe durch den Putz, eingerahmt von Ornamenten. Gelangweilte Beifahrer blicken unbeeindruckt durchs Seitenfenster, eingerahmt von Farben in metallic. Die Straße ist auch hier vernarbt. Der Antik Brinkmann an der Ecke Dittrich-Ring hat schon lange geschlossen. An seinen Scheiben steht nur noch in goldener Schrift »Antik« und eine Scheibe weiter »Brinkmann« und dann wieder »Antik«. Darunter Graffiti mit Silberedding und Werbeplakate für eine Ü30 Party. Mosaikartig ist der Boden vor der Eingangstür gepflastert, an der früher eine kleine Glocke hing, die immer fröhlich bimmelte. Die Thomaskirche steht nur wenige Meter weiter, wirkt surreal, wie ein Elfenbaum, so verästelt und verrankt. Ich bleibe ein Weilchen stehen, ziehe eine Zigarette aus der Manteltasche und rauche vorm Antiquariat mit Blick aufs Thomashaus, im Hintergrund die Kirche, denke an meine Großmama, wie sie aus vollem Halse im Chor von der Empore ihre Motetten sang, ihr beim Ave Maria beim Weihnachts-Oratorium des Thomanerchors irgendwann ganz mulmig wurde.
Die kahlen Bäume im Kirch-Vorgarten wirken, wie tote geschichtliche Reste, die über die Mauern greifen und schlagen, vom Wind geführt. Ich gehe die Straße hinauf zum Kirchhof, während sie mir hinterher winken. Mich fröstelt und die Nackenhaare stellen sich auf, als verfolge mich jemand. Der Rauch wird mir aus dem Gesicht gepeitscht und verschwindet schnell im Nichts. Links um die Ecke steht, in dunkles Metall gehüllt, Johann Sebastian Bach eine Schriftrolle in der Hand haltend. Sein Mantel ist offen und reicht ihm bis über die Knie, wo die bestrumpften Beine in der Hose verschwinden. Seine Haare erinnern mich an die Löwenmähnen. Die Ernsthaftigkeit in seinem Blick kontrastiert das zu einer Schleife gebundene Halstuch und den einen offenen Knopf seines Jacketts in das seine Hand zu schlüpfen vermag. Hinter ihm steht eine Orgel, aus der Engelsköpfe demütig zu Boden starren. Ich höre die Melodie von Air aus der Dritten Ouvertüre in meinem Kopf und denke daran, wie Töne Geschichten konservieren und das Damals für einen Augenblick immer wieder fühlbar machen.
Nach dem Essen sitzen Großmama und ich in alten Sesseln. Der Ehering an ihrer Hand ist viel zu groß. Ich habe das Gefühl sie hält ihn dort mit aller Kraft, mit ganz gekrümmten Fingern.
Ich stelle mir vor. Sie unterhält sich mit ein paar Freunden an einem Tisch, blickt auf die tanzenden Menschen. Vor ihren Augen verschwimmen alle und nur noch das Plauzen der Kapellentrommeln tönt in ihren Ohren, als dieser junge Bursche, den sie schon oftmals sah, über die Holzplanken der Tanzfläche auf sie zuschwebt. Sie kennt seinen Namen nicht, weiß nur, dass er der Bäckergeselle vom Herold ist. Ihre Hände zittern und werden feucht, als er sie zum Tanz bittend aus ihrer Apathie aufweckt. Ihre Augen glänzen, während er sie hält, herumführt, wie ein Kapitän durch die Menschenmassen, die branden an ihren Leibern, unsinkbar, abwechselnd im Schieber und im Walzer. Später vor der Haustür beugt er sich zu ihr vor: Gute Nacht, Maria sagt seine raue Stimme mit einem Klang, den sie noch immer hört, als stamme er aus berühmtester Ouvertüre. Am darauf folgenden Montag verlässt sie das Kaufhaus durch den Personaleingang Richard-Wagner-Straße, läuft zur Haltestelle Fleischerplatz und steigt in die Drei Richtung Kleinzschocher. Die Häuserfassaden ziehen an ihr vorbei und sie ist ganz versunken in den Tanz – tanzt in Gedanken weiter. Die Bahn hält und fährt und hält und fährt wieder, wie ein Diafilm. Es klickt und das nächste Bild erscheint hinter der Scheibe - klick - bis er vor ihr steht. Sie steigt aus und hakt sich in seinen Arm. Er bringt sie nach Hause bis zur Türe, beugt sich vor und sagt Gute Nacht, Maria mit gleichem Klang. Am nächsten Tag und dem darauf, immer wieder. Am Wochenende führt er sie ins Kino aus, in die Schauburg am Adler und dann zurück auf die Holzplanken, Samstag für Samstag, durch die Wellen bis zum ersten Kuss.
Ich lasse die Thomaskirche hinter mir, vorbei an den Auslagen von Hugendubel, wo Ratgeber angepriesen werden, sehe durch die Scheiben und überfliege die Titel: »Wenn das Leben dir eine Zitrone gibt, frag nach Salz und Tequila: Die Sonya-Strategie für Lebensglück, Erfolg und jede Menge Spaß«, »Die Freiheit zu lieben: Praktischer Ratgeber für mehr Selbstliebe, Wertschätzung und Verbundenheit«. Mich schaudert. Ich flüchte schnellen Schrittes in die Mädlerpassage, sehe in die Schaufenster. Zwei pubertierende Mädchen stehen an der Ecke und Lachen viel zu laut, erwecken meine Aufmerksamkeit. Ich beobachte sie durch die Reflexion der Scheibe, dann drehe ich mich um. Ihre Nägel sind lackiert, ganz dick in dunkler Farbe, tiefes bordeauxrot oder aubergine. Sie halten abwechselnd ihre Mobiltelefone am gestreckten Arm um sich selbst zu knipsen, posieren dabei, gewollt aufreizend, wie ihre Outfits, Strumpfhosen und Röcke, die nur knapp über den Hintern reichen, Ausschnitte, die ihre jungen Knospen gerade so verbergen, darüber Schals, die nur den Hals umspielen und Jacken aufgerissen, wie eine umgestülpte Frucht aus der das Fleisch zu bersten scheint. Mit Kussmund und eindeutigen Gesten, lautem, affektiertem Lachen, stellen sie sich zur Schau, wie Affen im Zoo. Zwei Jungen streifen meinen Mantel mit ihrem Windzug auf die Mädchen zu rennend, rufen mit Stimmbruchansätzen krächzenden Schund. Die Mädchen drehen sich um, laufen davon, schreiend und lachend zugleich. Die Schritte verhallen in der Passage und das Lachen und Geschrei verschwindet langsam, wie ein Martinshorn, was nachts am Fenster vorbeijault, weil wieder irgendwelche Nazis Kopfnüsse verteilt haben.
Großmama erzählt vom Krieg und ich sehe sie, wie immer, zum Wandschrank laufen, viel zu schnell für ihre Neunzig Jahre. Der Magnetwiderstand klickt und sie durchsucht akribisch Pappschachteln voll mit Zeitungsartikeln, Fotos, Papierstücken und Briefen, brummt wütend und wühlt weiter hektisch, weil sie nicht auf Anhieb findet, was sie zeigen will. Die Schranktür klatscht zu und sie hält einen Brief in ihren Händen. Sie liest ihn vor und ärgert sich, dass er so verblasst ist, entziffert Wort für Wort. ihre Augen werden immer feuchter, Wort für Wort.
Ich stelle mir vor. Mit dem Brief zur Einberufung in der Hand steht ihr Gerhard vor der Türe. Die Angst wird nun real. Er muss in den Krieg, den gerade erst begonnenen.
Ein paar Tage später, warten sie am Gleis und hoffen, dass der Zug niemals einfährt. Den Kleidersack über seiner Schulter, in Uniform gehüllt, sieht er sie an. Mit seinem Daumen, von der Arbeit rau, wie sprödes Leder, reibt er ganz hektisch ihren Handrücken, sieht andauernd auf die große Uhr. Der Leipziger Hauptbahnhof - so riesig. Die Zwei - ganz winzig - zwischen Tausend Leuten. Sie fühlt sich angekommen bei ihm in diesem Kopfbahnhof, doch ihr Gerhard muss nun fort. Der Zug rollt ein, schreit, so laut er kann, pfeift Dampf und speit ihn in die Luft. Zwischen ihnen herrscht gelähmte Stille. Der Klos im Halse, in der Brust, wächst, wie Hefe, blüht auf, verklebt alles, drückt von Innen auf die Augen, die ihr überlaufen, während er verschwommen sieht. Dagegen zu kämpfen ist aussichtslos. Sie will sprechen, kann es nicht, will ihm noch so vieles sagen, ist in sich selbst gesperrt, kann ihn nur an sich ziehen, will ihn erdrücken, krallt sich in den festen Stoff der Uniform. Die Angst, sich nie wieder zu sehen, bleibt unausgesprochen. Der Zug fährt los und er lächelt, wider seiner Augen, die die Tränen nicht mehr halten können, während sie ihr Stofftaschentuch vor den Mund hält, als wäre er schon tot, und hineinschluchzt, als sei es das Ende. Im Fenster des Zuges schrumpft sein Kopf, bis er im nebulösen Nirgendwo verschwindet.
Vier Wochen später ist sie schwanger und er kommt doch zurück auf Urlaub, fällt überglücklich auf die Knie und schenkt ihr jenen Ring. Zur Hochzeit wird das Ave Maria gesungen.
Der Zug fährt dennoch wieder mit ihm ab. Fortan wartet er im Saarland, am Westwall, darauf, zurückzufahren - in Bereitschaft - besetzt mit seiner Truppe vorher noch Paris und darf darauf zurück zu seiner geliebten Maria, die ihm einen Sohn gebar.
Genervt von Pubertätsgejohle und Menschenmassen, die mich am fortkommen hindern, kämpfe ich mich, soldatengleich, durch die Passage. Der herzhafte Geruch von Braten steigt mir wohlig in die Nase. Vor meinen Augen Faust mit Mephistopheles an seiner Seite. Ihnen gegenüber drei Studenten, wutentbrannt, mit Messern leicht bewaffnet - warte ich auf Fass-Gereite. Aus Auerbachs Keller, sind weder Studenten, noch Gesang zu vernehmen, also ziehe ich weiter, aus der Passage heraus in die Kälte, grüße in Gedanken noch Goethe, ganz aus Versehen.
Auf dem Marktplatz riecht es nach geräucherter Wurst und Aal, frisch geschnittene Blumen drängeln sich in Eimern. Obsthändler preisen ihre Waren an. Durch die Arkaden des alten Rathauses sehe ich sie mit ihren Handschuhen, aus denen nur die Fingerkuppen schauen, damit sie das Wechselgeld greifen können. Hier wartet jeder in der Kälte hinter seiner Auslage - wo das erste Untergrundmessehaus der Welt unter den Kopfsteinen lag - und vergisst. Im Breuninger stehen die Verkäuferinnen entspannt in ihrem Hosenanzug mit rotem Tuch. Die Besucher werden begrüßt von Heißluft und einladendem Lächeln. Vor dem Handyshop daneben belästigen die üblichen Studenten, die sonst gegen Studiengebühren demonstrieren, mit Klemmbrett und Schirmmütze bewaffnet, jeden Passanten, während über ihnen die blauen und weißen Luftballons, wie Sauerstoffblasen, emporsteigen, doch nie die Oberfläche erreichen. Wie Fische im Aquarium, beobachte ich die Burger King Besucher, die ihren Doppel Whopper hinter der Glasscheibe mampfen, marionettenartig und synchron, auf den Marktplatz sehen und nichts sehen in ihrer Teilnahmslosigkeit am Leben, nichts aussterben sehen, vergessen.
Wenn meine Großmama den Brief wieder faltet, die Brille, die sie nur zum Lesen braucht, von der Nase nimmt, ihn in das zerfledderte Kuvert steckt, sehe ich sie durchatmen, ganz tief.
Ich stelle mir vor. An Weihnachten leuchtet der Tannenbaum in den Augen ihres Sohnes, der seinen Vater erst einmal sah, als er noch gar nicht denken konnte. Er wartet auf ihn, der noch immer im Krieg ist, sich nun an der Ostfront befindet, in Stalingrad. Sie sitzt am Tisch im Kerzenschein und schreibt an ihn, wie jede Woche, schreibt von ihrem Seppel und dass es ihnen gut geht, von Sehnsucht und von Hoffnung.
Vorm Haus spielt der Kleine und sie wartet auf den Briefträger. Sie weiß noch nicht, dass das der letzte Brief sein wird, den sie von ihm bekommt. Hastig schneidet sie mit einem Brotmesser durch den Umschlag, nestelt den Brief heraus, faltet ihn auf und liest ganz langsam, atmet jedes Wort.
Es ist unberufen sehr schön, aber gar nicht gut, wenn man so viel denkt, denn dann wird man schwermütig und das ist auch gar nicht gut für diese Lage und Gegend hier. Dass du auch nicht ganz zufrieden sein wirst, kann ich mir auch vorstellen, aber die Hoffnung auf ein baldiges Ende ist groß und verlässt uns nicht.
Mit dem Finger fährt sie über das Relief der Schrift und malt die Worte nach, stellt sich vor, wie er gleiches tat.
Ich mach mir immer so meine Gedanken über ihn und er wird sicher schon sehr groß sein bis ich für immer bei euch sein kann und das ist es, weshalb ich mir Sorgen mache, denn jetzt wo er uns auch die größte Freude bereitet und am niedlichsten ist, kann ich nicht bei ihm sein und ihn kennen lernen. Ja, das ist wirklich dumm. Natürlich weiß ich, dass er bei meiner lieben Frau am besten aufgehoben ist, darüber besteht keinerlei Zweifel, aber ich möchte doch auch seinen kleinen Jungenstreiche sehen und mich mit dir darüber freuen.
Eine Träne tropft aufs Blatt und spritzt in alle Richtungen, wie eine Handgranate splittert. Sie ruft nach Seppel, nimmt ihn in den Arm und liest ihm vor.
Nun Schluss meine liebe Frau und ihrem Söhnchen. Tausend Grüße und Küsse, euer Vati.
Das Alte Rathaus im Rücken, breche ich den Rahmen des Marktplatzes durch die Hainstraße flanierend, in der die Schaufensterpuppen auf dem Boden lagen, Köpfe und Arme abgerissen. Im Laternenlicht funkelten Glasscheiben, als wären es Brillanten. Unter den Stiefeln der SA knirschte es beim absperren und aufräumen. Möbel flogen aus den Fenstern, zerschellten mit einem Knall, wie aus den Läufen der Schmeisser MP, und wurden abtransportiert. Keiner wollte wissen, was hier passierte.
Am Ende der Straße wächst eine Ruine aus dem Boden, ein Stück Fassade, drum herum Erdlöcher, wie nach einem Luftangriff. Weiträumig umzäunt von Strichcodes und Silhouetten von Radfahrern, Kindern, Musikern, Blumen, schwarz-weiß, durch dessen Knospen die Baustelle zu sehen ist, die Baustelle am Brühl, wo mal die Blechbüchse stand. Unter jeder einzelnen Schuppe steckten Geschichten, unter jedem einzelnen Stück ihres Aluminiumpanzers, der wie eine Ritterrüstung schien, die jetzt zerbrochen wurde. Mehr als ein Stück des Personaleingangs, durch den meine Großmama immer auf die Arbeit ging, ist nicht zu sehen, der Panzer abgelegt. Das letzte Stück Vergangenheit wird gehalten durch ein Stahlgerüst - wie eine Rentnerin an einem Stock. Die letzte Erinnerung bleibt. Bagger mit Schaufeln und Schlaghämmern kratzen und nagen sich in die gefallenen Überreste. Kipper fahren die zertrümmerten Fragmente irgendwohin; und irgendwann steht hier wieder etwas Neues.
Als ich an der Haustür meiner Großmama klingle, rieche ich schon das Mittagessen. Die Tür öffnet sich, wie in Zeitlupe, enthüllt langsam ihre traurigen Augen, die mit einem Mal ganz glücklich scheinen. Ich sehe ihre dünnen, weißen Haare und ihr Alter in den Furchen des Gesichts, am Hals und an den Händen, sehe nur einen Bruchteil von dem, was sie erlebt haben muss – Hunderte Leichen liegen auf der Straße - die aufgerissenen Straßenwunden, die brennenden Dächer, das frische Blut, die von Phosphorbomben verätzten Fassaden, die Erschütterung des Bodens, die sie spürte, während alle im Keller warteten mit den Fingern in den Ohren. Ich höre den Fliegeralarm und fühle die Angst. Ich sehe die Löwen und spielende Kinder, die sich an den Händchen halten, die Blumen in voller Blüte, voller Sinn, die aus dem Mutterboden sprießen.
Sie nimmt mich in den Arm und drückt mich ganz fest an sich, geht in die Küche. Eingerahmt in einem Regal steht ein Porträt von Gerhard, 20 Jahre jung. Seine Haut ist glatt, rasiert, die Haare nach hinten gekämmt. Durch den leicht geöffneten Mund blitzen seine Zähne. Er lächelt nicht, doch lächelt er. Die Augenbrauen eckig, wie ein Zollstock, leicht geknickt. Darunter, aus seinen Augen spricht Elan und Lebensmut und für meine Großmama auch Liebe, die nie starb, nicht in Stalingrad und siebzig Jahre später, nicht nach dem Krieg und nicht nach ihrem zweiten Mann, nicht nach allem, nicht nach dem Mauerfall und auch nicht jetzt. Es bleibt immer ein kleines Stückchen, ungeschützt durch Rüstung, vielleicht ganz klein und angreifbar, doch bleibt es, wie der Ehering am Finger meiner Großmama, um jeden Preis.